Kai Meyer: Die Spur der Bücher (Rezension)

Mercy Amberdale ist eine Auftragsdiebin. Sie hat sich darauf spezialisiert, seltene Bücher für reiche Sammler aufzuspüren und zu besorgen. Selbst in einer Buchhandlung aufgewachsen, kennt sie sich in dem Metier aus.

„Sie verstand sich auf den Umgang mit Dietrich und Brecheisen genauso gut wie auf das Studium vergilbter Bücherkataloge und halbvergessener Bibliothekskarteien. Und sie kannte die richtigen Leute.“

Ihr größtes Talent aber nutzt sie nicht: Mercy ist Bibliomantin, d.h. sie kann mittels Bücher Magie ausüben. Seit einem tragischen Unglück hat sie sich geschworen, nie wieder von ihrer Gabe Gebrauch zu machen.
Doch dann wird sie in einen Mord an einem Buchhändler verwickelt und gerät in ein Netz aus magischen Intrigen und dunklen Familiengeheimnissen.

Im Prequel zur Trilogie „Die Seiten der Welt“ nimmt Kai Meyer seine Leser mit auf Zeitreise ins England des 19. Jahrhunderts. Es ist ein düsteres Bild, das er entwirft, das viktorianische London ist laut, dreckig und stinkend. Jeder Mensch hat seinen festen Platz, entweder in den schmutzigen Gassen – oder in großzügig angelegten Herrenhäusern. Die Schere zwischen arm und reich klafft weit auf.

Es gelingt dem Autor, typische Motive der Gothic Novel und verwandten Filmen einzubinden, ohne in alte Klischees zu verfallen. Kenner werden aber sicher die Anspielungen auf Jack the Ripper, Dr. Jekyll oder Frankenstein zu schätzen wissen.

Passend zum Setting ist auch die Sprache nicht ganz so poetisch, wie man sie vielleicht bei Kai Meyer erwartet: Teilweise derb und roh spiegelt sie die Atmosphäre des Handlungsortes. Ganz verzichten kann der Autor jedoch nicht auf seinen üblichen Stil und so finden sich zwischendurch immer wieder nahezu lyrische Perlen, ein perfektes Symbol dafür, dass Schönheit sich oft im verborgenen versteckt:

„Sie standen im vernebelten Schein der Gaslaterne, in einem gelben Oval aus waberndem Licht, und was anderswo geschah, geschah eben anderswo, und ein paar Herzschläge lang war es nicht mehr Teil ihrer Welt.“

„Die Spur der Bücher“ ist eine Detektivgeschichte, wie sie schöner nicht sein könnte. Wenn Mercy das Büro der Verlegerin Florence Oakenhurst betritt, sieht man förmlich Szenen alter Schwarz-weiß-Filme vor sich. Wie es sich für einen Kriminalroman gehört, gibt es viele verschiedene Handlungsstränge und einige Verwicklungen, bis sich die Geschehnisse gegen Ende auflösen. Klassische, aber neu interpretierte Elemente wie die chinesische Mafia, ehrwürdige Gesellschaften und geheimnisvolle Fremde runden das ganze ab. Der Plot ist komplex genug, um eine angenehme Spannung zu erzeugen, die am Ende des Buches in einer Szene gipfelt, die schweißtreibende Parallelen zum Prolog enthält.

„Wir sind in einen der Romane geraten“, sagte Tempest hinter ihm, und die Hilflosigkeit, die er bei ihren Worten verspürte, zerriss ihm das Herz. „Das alles hier ist wie in den Heften. Wir haben immer gedacht, wir verkaufen den Leuten nur alberne Geschichten über Schurken und Liebespaare. Dabei gibt es das alles wirklich. Es ist alles wahr.“

Gleichzeitig ist „Die Spur der Bücher“ eine Geschichte über Verlust und den Umgang mit Schuld. Nicht nur Mercy muss mit tragischen Fehlentscheidungen leben, die nicht mehr wiedergutzumachen sind. Meyer gelingt es hier, feinfühlig und ohne pseudopsychologische Stempel die Innenwelt seiner Figuren zu transportieren. Doch Meyer wäre nicht Meyer, wenn seine Figuren – insbesondere die weiblichen – nicht schließlich ihre eigene Stärke finden und sich emanzipieren würden. So wird „Die Spur der Bücher“ auch zu einem Gleichnis über das Annehmen der eigenen Bestimmung.

Wie schon der Titel verrät, sind Bücher ein zentrales Thema. Doch geht es nicht nur um die Suche nach wertvollen Büchern oder die Kraft der Buchmagie. Geschickt verwebt Meyer die immer wieder aufkommende Frage nach der Daseinsberechtigung von Unterhaltungsliteratur mit Mercys Geschichte. Die „Loge des erlesenen Geschmacks“, eine Vereinigung von Kritikern, findet innovative Wege, die von ihr verdammten Penny Dreadfuls (Groschenhefte mit Fortsetzungsromanen, die auf der Straße verkauft werden) zu bekämpfen, natürlich mit guten Absichten.

„Worte der Gewalt führen zu Taten der Gewalt. Dummheit auf Papier infiziert die Gedanken der Massen mit noch größerer Dummheit.“

Dass Meyer diese Diskussion ausgerechnet in einem Werk der Phantastik, die nach wie vor stiefmütterlich von den Literaturkritikern unserer Zeit behandelt wird, anbringt, entbehrt nicht der Ironie.

Wie schon in der zuvor veröffentlichten Trilogie bietet auch der Vorgänger eine Vielzahl an außergewöhnlichen und phantasievollen Ideen, die die bibliomantische Welt lebendig werden machen, seien es unheimliche Schnabelbücher oder wandelnde Lexika wie der Veterator. Wer „Die Seiten der Welt“ kennt, darf tiefer in das Wesen der Bibliomantik eindringen: Er lernt neue Formen der Buchmagie kennen und nähert sich vielleicht auch ihrem Ursprung. Zudem gibt es einige aha-Erlebnisse in Bezug auf künftige Geschehnisse. Dennoch lässt sich „Die Spur der Bücher“ auch problemlos als Einzelband lesen.

Aufgrund des Settings und den reiferen Figuren – neben Mercy Amberdale vor allem ihre frühere Freundin Tempest – gefällt mir das Prequel noch besser. Einzig ein Teil des Plots, der mit der Auflösung des Mordes zu tun hat, hat mir aufgrund des Anachronismus nicht gefallen, was dem Gesamtwerk jedoch keinen Abbruch tut.

 

Details zum Buch
Kai Meyer: Die Spur der Bücher
FISCHER FJB – gebunden – 442  Seiten
ISBN: 3841440053
Preis: 19,99 Euro

 

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